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THE CYCLE OF ABUSE – NARZISSTISCHEN MISSBRAUCH ERKENNEN & VERSTEHEN

Narzisstischer Missbrauch läuft stets nach demselben Muster ab, und unterteilt sich in vier Phasen: Lovebombing, Devaluation, Hoovering und Discard. Die Grundlage bildet dabei stets psychische Gewalt, jedoch können im Kontext von narzisstischem Missbrauch auch diverse andere Formen des Missbrauchs auftreten. Oftmals als Lappalie abgetan, hat insbesondere psychische Gewalt jedoch nicht minder schwere Folgen für Betroffene.

ein Text von Lisa Jureczko | Beitragsbild: texturefabrik.com

Seltener als werden die ausgeführten Taten als “narzisstischer Missbrauch” bezeichnet, und stattdessen unter dem Begriff “häusliche Gewalt” zusammengefasst. Doch dieser Begriff verharmlost nicht nur die traurige Lebensrealität zahlreicher Betroffener innerhalb von Partnerschaften und Familienkonstrukten, oftmals ist er auch irreführend, da Beziehungskonstrukte außerhalb der heterosexuellen Norm außer Acht gelassen werden und er nicht-private Situationen ebenfalls nicht umfasst. „Ich sag „sogenannte“, weil „häusliche“ für mich immer bisschen verniedlichend klingt“, schrieb die Journalistin und Autorin Margarete Stokowski dazu vor einiger Zeit. Als ich diesen Satz las, wurde mir schlagartig bewusst, auf welch subtile Weise der Klang eines Wortes unsere Wahrnehmung beeinflusst.

Eine BMFSFJ-Studie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass allein in Deutschland knapp 313 Frauen täglich Opfer dieser Form des Missbrauchs werden. In Zeiten der Corona-Pandemie stiegen die Zahlen deutlich an: 30% mehr Meldungen häuslicher Gewalt innerhalb von nur 11 Tagen Quarantäne in Frankreich, Verdreifachung der Anzahl von Missbrauchsopfern in China, 19 ermordete Frauen in knapp vier Wochen Quarantäne in Argentinien. Mitte März 2020 meldete die amerikanische Crisis Text Line einen schlagartigen Anstieg auf etwa 6000 Konversationen mit suizidgefährdeten Personen in einer Woche, die National Suicide Prevention Lifeline verzeichnet in kürzester Zeit eine Zunahme entsprechender Anrufe um 20 Prozent.

Doch wie erkennt man die oftmals subtilen Taktiken narzisstischer Täter:innen? Wie schafft man es, sich von ebendiesen räumlich und emotional zu distanzieren? Und wie kann man als Außenstehende:r helfen? Once you see it, you can’t unsee it. Denn emotionaler, narzisstischer Missbrauch läuft im Grunde immer nach demselben Muster ab – egal, ob sich dieser im familiären, beruflichen, freundschaftlichen oder partnerschaftlichen Kontext abspielt.

Am Anfang steht die geradezu perfekte Phase des sog. Lovebombings

Zwischen Täter:in und Opfer scheint eine tiefe, emotionale Bindung zu entstehen (grooming), (vermeintliche) Gemeinsamkeiten werden in den Fokus gerückt (mirroring), Zukunftspläne geschmiedet (future faking). Tatsächlich hat diese Phase für narzisstische Täter:innen – ob mit diagnostizierter narzisstischer Persönlichkeitsstörung oder ohne ist in dem Kontext irrelevant – keinerlei emotionale Bedeutung. Sie dient einzig dazu, ein Abhängigkeitsverhältnis zu schaffen (trauma bonding) sowie Aufmerksamkeit und Bestätigung zu generieren (narcissistic supply).

Auf dieses emotionale Hoch folgt eine permanente (mehr oder weniger subtile) Herabwürdigung und Verunsicherung des Opfers: die sog. devaluation phase

Das tiefe Vertrauensverhältnis wird aus dem Nichts zu emotionaler Kälte und Distanziertheit (silent treatment). Abwertung, die zunächst ein vermeintlich harmloser Scherz ist, schlägt um in degradierende Kommentare. Auch das bewusste Erzeugen von Eifersucht spielt nun eine Rolle: im Eltern-Kind-Kontext kann sich dies durch kontinuierliches Vergleichen zweier Geschwister zeigen („Wärst du bloß so wie X!“), in einer Partnerschaft werden Ex-Partner*innen plötzlich besonders häufig thematisiert (triangulation). Vor allem Menschen mit einer empathischen Persönlichkeit neigen in solchen Situationen dazu, sich selbst und ihre Wahrnehmung anzuzweifeln. Die emotionale Abhängigkeit wird spätestens dann zum Verhängnis, wenn Täter:innen ihre herabwürdigenden Aussagen und Handlungen herunterspielen oder leugnen (gaslighting). Täter:innen täuschen zudem Empathie und Reue vor („Ich wollte dich nie verletzen! Du bedeutest mir so viel!“), um die emotionale Abhängigkeit des Opfers zu verstärken und eine Trennung durch die betroffene Person zu vermeiden (hoovering). Denn ein Ende dieser Beziehung hieße für narzisstische Täter:innen vor allem eines: ein großer Schaden für’s eigene Ego und der Verlust einer Quelle permanenter Bestätigung.

Narzisstische Täter:innen nutzen abwegige Vorwürfe und verbale Aggression, um ihrem Opfer vor allem eines zu bereiten: Kopfschmerzen und ein schlechtes Gewissen. Ist eure legitime Gegenreaktion eine wütende, könnt ihr euch sicher sein, dass sie genau diese berechtigte Wut gegen euch verwenden. Diese Form des Brainwashings resultiert oftmals in einer auf Verlustängsten basierenden Entschuldigung – seitens der missbrauchten Person. Das Opfer versinkt in Schuldgefühlen, die Täter:innen drohen derweil mit Suizid oder Gewalt, und verstärken so das bestehende Trauma des Gegenübers.

Das Ausüben von Kontrolle und Macht ist ein weiterer Grund für psychische Gewalt.

Täter:innen, die sich in selbstverschuldeten Konfliktsituationen mit dem Opfer wiederfinden, verstärken ein Machtgefälle, indem sie eine Klärung des Konflikts bewusst vermeiden, Anrufe oder Nachrichten ignorieren (cliffhanging) oder Gespräche abrupt beenden (stonewalling). Diskussionen mit narzisstischen Täter:innen sind vor allem so nervenaufreibend und ermüdend, weil man das Gefühl hat, sich ständig im Kreis zu drehen, da Aussagen konstant widersprüchlich oder so vage sind, dass extrem viel Spielraum für Interpretation bleibt (wordsalad). Je länger eine solche Beziehung andauert, desto schwieriger ist Kommunikation mit narzisstischen Partner:innen, Freund:innen, Kolleg:innen oder Elternteilen, denn letztendlich gilt: alles kann falsch, nichts kann richtig sein (walking on eggshells). Aus jeder Lappalie kann ein neuer Konflikt entstehen; was gestern noch okay war, wird dir in ein paar Stunden oder Tagen zum Vorwurf gemacht.

Zwischenmenschliche Beziehungen mit narzisstischen Menschen fühlen sich an wie ein ständiger Wechsel aus Ebbe und Flut – in immer kürzer werdenden Abständen und mit rapide wachsender Intensität. Narzisstische Partner:innen, Freund:innen sowie Elternteile setzen Lügen, Intrigen, Willkür und Manipulation bewusst ein. Diese Menschen wissen was sie tun. Sie wissen, wen sie auf welche Art verletzen, manipulieren, kontrollieren können – und wen eben nicht.

Weil Täter:innen nur ausgewählten Personen ihr wahres Gesicht zeigen, stoßen Betroffene oft auch im Umfeld auf Skepsis, sobald sie über die Taten reden.

Nicht nur, weil viele Menschen psychische Gewalt nicht erkennen. Täter:innen manipulieren auch Nahestehende durch gezieltes Säen von Misstrauen (Smear Campaign). Dadurch ziehen sich Betroffene häufig zurück, während sich einstige Bezugspersonen distanzieren (isolation). Viele beginnen zu glauben, sie selbst seien das Problem, und leugnen die Taten vor sich und ihren Mitmenschen. Eine solche Smear Campaign beginnt häufig schon weitaus früher als es den Betroffenen bewusst ist – und nicht erst, wenn die Beziehung beendet und man von den Täter:innen fallen gelassen wird (sog. discard phase).

Isolation ist der Grund schlechthin, wieso ein Kontaktabbruch unmöglich scheint. Während alles in sich zusammenbricht, bildet das „da sein“ der missbrauchenden Person eine Konstante. Stets wird Besserung gelobt und für Hoffnung gesorgt (breadcrumbing). Den Opfern wird zeitgleich vermittelt, kein anderer Mensch schätze sie oder werde dies jemals tun („Keiner hält es mit dir aus.“). Da diese zwischenmenschlichen Beziehungen auf Ängsten und Selbstzweifeln beruhen, fällt es insbesondere jungen Betroffenen schwer, sich von narzisstischen Partner:innen oder Verwandten zu distanzieren. Einsamkeit oder in eine finanzielle Notlage zu geraten, erscheinen bedrohlicher und belastender als Doppelmoral und Psychoterror.

Im Normalfall gibt es nur eine Lösung, um sich aus der Situation zu befreien: no contact

Abstand nehmen und zeitweise bei Freunden oder Familie unterzukommen kann ein erster Schritt sein. Doch was, wenn dies nicht geht? Ein Weg, Konflikte zu vermeiden, ist die Reduzierung von Kommunikation auf das Wesentliche (grey rock). Versucht, auf Provokationen nicht einzugehen. Hinterfragt die Täter:innen: Durch welches Verhalten erbeuten sie Bestätigung oder Aufmerksamkeit? Werdet ihr durch Worte oder Taten kleingehalten? Versucht, die Motivation der Täter:innen zu verstehen – nicht, um die Taten zu rechtfertigen, sondern um sie zu verurteilen. Nehmt eure Gefühle ernst, und richtet euren gedanklichen Fokus auf euch selbst. Es ist nicht euer Schicksal, in einer schmerzhaften Beziehung zu verharren. Es ist okay, langjährigen Partner:innen, Freund:innen, oder Familienmitgliedern den Rücken zu kehren. In einem Interview mit Oprah Winfrey sprach Stefani Germanotta aka Lady Gaga kürzlich über ihre Missbrauchserfahrungen. „Radical acceptance was key“, sagte die Sängerin – denn, wenn man radikal akzeptiert, dass Missbrauch eine bewusste Entscheidung der Täter:innen ist, fällt es leichter, sich emotional und physisch aus dieser Situation befreien.

Ihr erkennt euch oder jemanden aus eurem Umfeld in dem Text wieder? Dann kontaktiert Mitmenschen, seien es Freunde, Bekannte, oder offizielle Anlaufstellen, und sucht euch Hilfe. Auch Außenstehende sollten hellhöriger werden, Betroffenen ihr Misstrauen gegenüber den Täter:innen offen kommunizieren, und deutlich zeigen, dass sie den Ernst der Lage erkennen. Sucht nach Hilfsangeboten in eurer Region und leitet diese Infos an Missbrauchsopfer weiter. Seid geduldig mit Betroffenen, aber bleibt beharrlich.

Q U E L L E N

Marie Campistron, France fears fresh wave of domestic violence amid second Covid-19 lockdown, France24.com, 2020

Dr. Ramani Durvasula, “Dont You Know Who I Am?”. How to Stay Sane in an Era of Narcissism, Entitlement, & Incivility, 2019

Dr. Ramani Durvasula, Should I Stay or Should I Go? Surviving a Relationship with a Narcissist?, 2015

Judith Herman, Die Narben der Gewalt, 2018

Shalini Mittal & Tushar Singh, Gender-Based Violence During COVID-19 Pandemic: A Mini-Review, frontiersin.org, 2020

Anya Prusa, Beatriz García Nice & Olivia Soledad, Pandemic of Violence: Protecting Women during COVID-19, Wilson Center, 2020

Lili Torok, What 2020 looked like at Crisis Text Line, Research Crisis Text Line, 2021

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