Typen von Narzissmus
Der Begriff „Narzissmus“ ist weder ein Modebegriff, noch ein Synonym für Selbstliebe, und vor allem keine Diagnose. „Narzissmus“ ist ein beschreibendes Wort, das diverse Verhaltensweisen zusammenfasst, die allesamt negative Auswirkungen auf das Umfeld der narzisstisch handelnden Person haben – ungeachtet dessen, ob die Person eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung hat oder nicht. Narzisstische Menschen handeln ausbeuterisch und empathielos, legen dabei eine Doppelmoral sowie nicht selten auch Skrupellosigkeit an den Tag. Die Gewalt, die Narzisst:innen ausüben, kann dabei auf verschiedenen Ebenen stattfinden: psychisch, körperlich, sexuell, verbal oder in Form von finanziellem Missbrauch. Nach außen hin wirken sie häufig charmant, unschuldig und liebevoll. Dies führt meist dazu, dass Täter:innen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, und es stattdessen die Betroffenen sind, die auch im eigenen Umfeld auf Unglaube und Misstrauen treffen. Zudem basiert jede Form der Gewalt und Diskriminierung auf kollektivem, historisch und gesellschaftlich tief verankertem Narzissmus.
Forscher:innen, Psycholog:innen, Therapeut:innen und andere Expert:innen unterscheiden zwischen verschiedenen Typen von Narzissmus basierend auf der Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen. Häufig wird zwischen den jeweiligen Extremen unterschieden, also zwischen grandios vs. vulnerable, communal vs. agentic oder overt vs. covert narcissism. Ebendiese Unterscheidungen sind wichtig und hilfreich, häufig switchen Narzisst:innen jedoch situationsabhängig zwischen den einzelnen Typen und Verhaltensweisen.
Benign Narcissism / Entitled Narcissists bezeichnet laut Dr. Ramani Durvasula, diejenigen, deren Empathielosigkeit eher unbedarft wirkt, die ein theatralisches und ich-zentriertes Verhalten an den Tag legen, und dabei eher oberflächliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen führen, die einseitig sind und denen es an emotionaler Tiefe fehlt. Die narzisstischen Züge sind auch bei Benign Narcissists ausgeprägt, jedoch erscheinen sie weniger böswillig und ausbeuterisch als bei anderen Arten des Narzissmus. Laut Dr. Ramani Durvasula kann es sein, dass Menschen eine solche Beziehung nicht per sé als missbräuchlich empfinden, sondern schlicht als oberflächlich, einseitig und anstrengend.
Böswilliger / Maligner Narzissmus ist eine der beiden bekanntesten Formen von Narzissmus. Maligne Narzisst:innen agieren privat und / oder öffentlich auf eine sehr offensichtliche Art und Weise böswillig und tendieren zu massiver körperlicher, sexueller und / oder verbaler Gewalt. Psychische Gewalt spielt ebenfalls eine Rolle, und zeigt sich in dem Fall u.a. in Form von Bedrohung, Nötigung, Abwertung, Stonewalling, Stalking oder anderen kontrollierenden Verhaltensweisen.
Communal Narcissism beschreibt das Verhalten von Narzisst:innen, die sich nach außen hin gemeinnützig und hilfsbereit zeigen, dies jedoch nur mit der Intention tun, Anerkennung und Bestätigung zu erhalten. Im beruflichen und /oder privaten agieren sie ausbeuterisch und missbräuchlich. Communal Narcissism kommt insbesondere im therapeutischen bzw. medizinischen Kontext vor sowie in Gemeinnützigen Vereinen und Organisationen. Auch (White) Saviorism hat seinen Ursprung in Communal Narcissism.
Grandioser Narzissmus ist eine der beiden bekanntesten Formen von Narzissmus. Der Schwerpunkt liegt hier vor allem auf dem Glauben der Täter:innen, anderen überlegen zu sein, sei es aufgrund ihres Besitzes, ihres Berufs, ihres Aussehens oder ihrer Talente. Die Überheblichkeit geht dabei mit einer Abwertung anderer sowie Missgunst einher. Ebenso legen sie ein erhöhtes Anspruchsdenken an den Tag und zielen darauf ab, sich nur mit Menschen zu umgeben, die sie als ebenbürtig ansehen, oder aus denen sie entsprechende Ressourcen schöpfen können. Bei grandiosen Narzisst:innen können auch vulnerable Züge eine Rolle spielen, beispielsweise in Form von Selbst-Viktimisierung, sofern das Umfeld die vermeintliche Grandiosität nicht anerkennt.
Kollektiver Narzissmus ist der Glaube an die unangefochtete Überlegenheit der eigenen sozialen Gruppe (Ingroup) gegenüber anderen sozialen Gruppen (Outgroups), und bezieht sich auf gesellschaftlich, historisch und politisch verankerten Narzissmus, der sich u.a. in Systemen wie Patriarchat und Kapitalismus, sowie sämtlichen Diskriminierungsformen zeigt. Diese basieren allesamt auf der Ausbeutung und Abwertung sozial benachteiligter und marginalisierter Gruppen. Kollektiver Narzissmus geht mit der Erwartungshaltung einher, dass die vermeintliche Überlegenheit der eigenen Ingroup von der Outgroup anerkannt wird und reagiert überempfindlich auf alles, was das glorifizierte Bild der Ingroup trüben könnte. Genau wie individueller Narzissmus schützt auch kollektiver Narzissmus das fragile Selbstwertgefühl von Individuen – auf Kosten der Outgroup. Er hat dagegen keine positiven Auswirkungen auf die Ingroup und kann sogar den Gruppenzusammenhalt der Ingroup untergraben. Einige der Formen von kollektivem Narzissmus sind bspw. Nationalismus (der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Nation), weiße Vorherrschaft (der Glaube an die Überlegenheit der weißen „Rasse“), Patriarchat (der Glaube an die Überlegenheit von Männern). Daraus ergeben sich eine Vielzahl an Diskriminierungsformen, beispielsweise Abwertung von Migrant:innen, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus.
Macchiavellismus bezeichnet in der Psychologie eine Tendenz zu narzisstischen Handlungen, die insbesondere auf die Manipulation und Ausbeutung anderer abzielen. Nach Paulhus und Williams agieren Machiavellist:innen unehrlich, empathielos, kalkuliert und rücksichtslos.
Trickle Down Narcissism beschreibt den Effekt, dass narzisstische Verhaltensmuster sich in allen Bereichen einer Hierarchie (sei es ein Unternehmen, eine Behörde, ein politisches System oder eine Familie) wiederfinden, insbesondere wenn die Führungsebene narzisstische Verhaltensweisen fördert und belohnt. Ein solches System spielt also Narzisst:innen und Enabler:innen in die Hände, und begünstigt Ausbeutung, Konkurrenzdenken und Herabwürdigung.
Offensichtlicher Narzissmus / Overt Narcissism bezeichnet narzisstische Verhaltensweisen, die offensichtlich sind, beispielsweise Diskriminierung, verbale Herabwürdigung, körperliche Gewalt, der Glaube an die eigene Überlegenheit und Arroganz. Overt Narcissists scheuen bspw. auch in beruflichen oder öffentlichen Kontexten nicht davor zurück, andere zu degradieren.
Verdeckter Narzissmus / Covert Narcissism bezeichnet narzisstische Verhaltensweisen, die eher subtil sind. So handeln verdeckte Narzisst:innen beispielsweise oft nur in bestimmten Beziehungen missbräuchlich, und schaffen es, nach außen hin charmant und liebevoll zu agieren. Betroffene erkennen verdeckten Narzissmus oftmals erst spät, da er nicht selten auch mit vurnerablem Narzissmus einhergeht, und Täter:innen durch Mitleid eine Fake Persona kreieren und so Aufmerksamheit erhaschen. Verdeckte Narzisst:innen wenden häufiger subtile Formen der Manipulation und psychischen Gewalt an.
Vindictive Narcissism bzw. Rachsüchtiger Narzissmus bezieht sich auf Narzisst:innen, deren Ziel es ist, Menschen für jegliche Handlung oder Aussage zu bestrafen. Dies kann sich während der Beziehung schon durch Stonewalling, Ghosting und Herabwürdigung zeigen. Oftmals wirken rachsüchtige Narzisst:innen phasenweise charming und liebevoll, zeigen sich jedoch bei den kleinsten Konflikten böswillig und herabwürdigend. Nach einer Beziehung kann es zu Stalking sowie gravierenden Smear Campaigns auf privater, beruflicher oder medialer Ebene kommen, die das Ziel haben, den Ruf des Opfers zu schädigen. Hierbei spielt auch bedrohliches Verhalten eine Rolle, das Betroffene in Angst versetzen, einschüchtern und zum Schweigen bringen soll.
Vulnerabler Narzissmus zeigt sich in Form einer internalisierten Opfermentalität der Täter:innen. Durch sog. Pity Ploys erhalten sie narzisstische Bestätigung, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Nicht selten wird Hypochondrie als Tool genutzt, um durch Mitleid, Rat und andere Formen der Hilfe narzisstische Zufuhr zu erhalten. Betroffenen fällt eine Trennung von vulnerablen Narzisst:innen häufig deshalb so schwer, weil Täter:innen psychische Gewalt in Form von Guilttripping und Täter-Opfer-Umkehr anwenden. Oft drohen Täter:innen auch mit selbstverletztendem Verhalten oder Suizid, um eine Trennung zu verhindern.
White Collar Narcissism bezeichnet Narzissmus und Psychopathie in Chefetagen und Führungsriegen. Der Begriff umfasst dabei auch kriminelles Verhalten (White Collar Crime), wie beispielsweise Steuerhinterziehung, Rechnungfälschung, Geldwäsche, Intrigen und ausbeuterisches Verhalten durch Personen in gesellschaftlich angesehenen Berufsfeldern (Ärzt:innen, Jurist:innen, Politiker:innen usw.).
Psychopathie ist eine schwerwiegende Form der Dissozialen Persönlichkeitsstörung, kann jedoch auch unabhängig von dieser auftreten, beispielsweise auch als Komorbidität mit Borderline oder einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Robert Hare unterteilt Psychopath:innen in zwei Gruppen: zum einen Personen mit aggressivem Verhaltensmuster, Charme, Empathielosigkeit und einer Tendenz zu notorischem Lügen, und zum anderen Personen mit einem Lebensstil, der von sozialen Normen abweicht, und von Impulsivität und Kriminalität geprägt ist. Laut Hare ist für Psychopathie der Mangel an emotionaler Empathie ausschlaggebend, während diese für die Diagnose einer Dissoziale Persönlichkeitsstörung nicht nötig ist. Auch betont Hare immer wieder, dass nicht alle Psychopath:innen straffällig werden und mitunter ein weitestgehend unauffälliges oder den gesellschaftlichen Normen entsprechendes Leben führen. Sog. high functioning psychopaths sind nicht selten in Führungs- und Machtpositionen zu finden. Auf die Psychopathie Checklist von Robert Hare gehen wir in unserem Narzissmus A-Z genauer ein.
Soziopathie wird als eine schwerwiegende Form der narzisstischen Persönlichkeitsstörung angesehen. Die Verwendung des Begriffs ist jedoch umstritten. Zudem ist Soziopathie häufig nur schwer von der Psychopathie zu unterscheiden. Soziopathie zeigt sich insbesondere in Form von einem Mangel an emotionaler Empathie, Reue und Einfühlungsvermögen, manipulativen Verhaltensweisen, sowie einem Mangel an Impulskontrolle und daraus resultierendem aggressivem und kriminellem Verhalten. Laut Dr. Ramani Durvasula agieren Psychopath:innen kalkulierter und subtiler, während Soziopath:innen Regelbrüche impulsiver und offensichtlicher ausüben.
Texte: Lisa Jureczko
Co-Autorin & Reviewerin: Swetlana Nowoshenowa
Q U E L L E N
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