
KOLLEKTIVER NARZISSMUS & SEINE AUSWIRKUNGEN AUF UNSERE GESELLSCHAFT
Kollektiver Narzissmus – Ein zerstörerisches Wir-Gefühl, das in sämtlichen Diskriminierungsformen, politischer Unterdrückung und Machtmissbrauch resultiert.
ein Text von Swetlana Nowoshenowa | Beitragsbild: Op Art Vector by rawpixel
Wenn wir über Narzissmus sprechen, ist meistens von individuellem Narzissmus die Rede. Ob bewusst oder unbewusst, jeder kennt sie: Narzisst:innen. Die ganze Welt scheint sich um sie und ihr fragiles Ego zu drehen. “Ich, ich, ich” ist ihr ewiges Mantra, manchmal in grandioser Selbstüberhöhung, manchmal vulnerabel und in Selbstmitleid versunken. Was aber ist mit kollektivem Narzissmus gemeint?
Kollektiver Narzissmus hat viele Parallelen zu individuellem Narzissmus. Genau wie individueller Narzissmus hat auch kollektiver Narzissmus die psychologische Funktion, das instabile Selbstbewusstsein der narzisstischen Person zu regulieren. Und auch bei kollektivem Narzissmus entsteht dabei ein teils erheblicher Kollateralschaden. Wie der Name schon vermuten lässt, beziehen kollektive Narzisst:innen ihr Selbstbewusstsein nicht aus ihrer eigenen Person und ihrer individuellen Eigenschaften, sondern aus der Identifikation mit einer sozialen Gruppe. Damit einher geht auch die Erwartungshaltung, aufgrund der eigenen Gruppenzugehörigkeit besser behandelt zu werden. Der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Gruppe (Ingroup) ist dabei weder stabil noch selbstgenügsam. Er verlangt nach einer ständigen Bestätigung von außen und ist überempfindlich gegen wahrgenommene Bedrohung. Das führt unweigerlich zu einer Abwertung und Feindseligkeit gegenüber der Outgroup (der als „Andere“ oder als „Fremde“ wahrgenommenen sozialen Gruppe).
„Meine Gruppe verdient es, besser behandelt zu werden.“
„Es macht mich wütend, wenn andere meine Gruppe kritisieren.“
„Nur wenige Menschen scheinen die wahre Wichtigkeit meiner Gruppe zu erkennen.“
Beispielfragen aus der Skala für kollektiven Narzissmus, Agnieszka Golec de Zavala & Aleksandra Cichocka u.a., 2009
Die Frage, wer zur Ingroup dazugehört und wer nicht, ist übrigens nicht in Stein gemeißelt. Gruppenzugehörigkeiten und ihre Wichtigkeit sind immer kontextspezifisch und variabel.
Gesellschaftliche Folgen von kollektivem Narzissmus
Die gesellschaftlichen Folgen von kollektivem Narzissmus sind mitunter gravierend. Die Bestätigung hierfür finden wir nicht nur in Geschichtsbüchern. Die Liste der kollektiven Vergehen ist lang: Ob Rassismus, Patriarchat, Kolonialisierung, Angriffskriege, Versklavung oder Genozid. Diese konnten nur möglich gemacht werden durch die Unterstützung einer breiten Allgemeinheit, mithilfe einer Ideologie, welche die eigene Gruppe als besonders und überlegen darstellt und gleichzeitig als gefährdet durch eine angeblich feindliche und vermeintlich übermächtige Outgroup.
Auch in der aktuellen Forschung finden wir zahlreiche Hinweise dafür, dass kollektiver Narzissmus im Hinblick auf die Verbreitung menschenfeindlicher und demokratiegefährdender Ideologien eine tragende Rolle spielt. Kollektiver Narzissmus hängt beispielsweise mit der Rechtfertigung, Unterstützung und Leugnung rassistischer Gewalt und Politik zusammen. Feindselige Einstellungen gegenüber als „fremd“ oder „unterlegen“ wahrgenommener Gruppen resultieren in Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Vor allem auf reale und vermeintliche Angriffe und Bedrohungen gegenüber der Ingroup reagieren kollektive Narzisst:innen überempfindlich und feindselig – selbst wenn es sich um berechtigte Kritik oder harmlose Witze handelt.
Diverse Studien belegen, dass kollektiver Narzissmus und der Glaube an Verschwörungsmythen oft Hand in Hand gehen. Narzisst:innen glauben in diesem Fall vor allem an Verschwörungsmythen, die der Outgroup feindselige und gefährliche Absichten und Handlungen unterstellen. Diese Verschwörungsmythen können den Einstieg in die weitere Radikalisierung bieten, und menschenfeindliche Ideologien sowie gewaltbereiten Extremismus begünstigen. Das für Narzissmus typische Spannungsfeld zwischen Grandiosität und Vulnerabilität, zwischen der Illusion von Überlegenheit und einer Überempfindlichkeit für wahrgenommene Bedrohung, macht diese Menschen unempfänglich für Logik, Gegenargumente und gesunden Menschenverstand. Jeder, der schon einmal versucht hat, jemanden davon zu überzeugen, dass es weder eine jüdische Weltverschwörung noch eine übermächtige Translobby gibt, dass die Ukraine den Angriffskrieg durch die russische Armee nicht provoziert hat, oder dass die Covid-Impfstoffe kein ausgeklügelter Masterplan der Pharmaindustrie sind, die Menschheit zu vergiften, kann dies nur bestätigen.
Kollektiver Narzissmus kümmert sich nicht um das Wohlergehen der Gruppe – ganz im Gegenteil
Doch ist eine stark ausgeprägte Gruppenidentität immer problematisch? Keinesfalls. Genauso wie Selbstliebe nicht zu verwechseln ist mit individuellem Narzissmus, geht auch eine positive Gruppenidentifikation nicht zwingend mit kollektivem Narzissmus einher. Kollektiver Narzissmus ist nämlich nicht nur problematisch für die Outgroup, sondern auch für die Ingroup. Kollektive Narzisst:innen sind weniger loyal gegenüber der Ingroup, nutzen Mitglieder ihrer Gruppe häufiger für eigene Zwecke aus und untergraben den Gruppenzusammenhalt. Kollektiver Narzissmus spaltet die Gesellschaft, denn immer neue Gruppenzugehörigkeiten werden willkürlich als „nicht zugehörig“ betitelt, argwöhnisch und ängstlich betrachtet, abgewertet und diskriminiert. Statt konstruktiv an der Lösung vorhandener Probleme zu arbeiten, muss immer wieder eine neue Gruppe als Sündenbock herhalten, um von der eigenen Misere abzulenken.
Eine positive Gruppenidentität dagegen hat sowohl für die Ingroup als auch für die Outgroup viele Vorteile. Sie stärkt nicht nur das individuelle Wohlbefinden und Selbstbewusstsein, sondern hängt mit positiveren Einstellungen gegenüber Ingroup und Outgroup, Vertrauen und Kooperation, prosozialem Verhalten und besseren Leistungen bei der gemeinsamen Bewältigung von Aufgaben zusammen.
In einer Welt, die auf Unterdrückung und Ausbeutung basiert, ist es unmöglich, komplett frei von kollektivem Narzissmus aufzuwachsen. Verinnerlichte Diskriminierung wird häufig nicht mal von uns selbst wahrgenommen. Bereits bei Kindern im Vorschulalter zeigt sich beispielsweise, dass sie erlernte diskriminierende Einstellungen verinnerlichen und andere Menschen anhand von Kategorien wie Hautfarbe oder Geschlecht anders wahrnehmen.
Die polnische Psychologin Dr. Agnieszka Golec de Zavala erklärt, dass kollektiver Narzissmus der vergebliche Versuch ist, ein niedriges Selbstbewusstsein zu kompensieren. Demnach ist ein stabiles – individuelles oder kollektives – Selbstbewusstsein mitunter eine Präventionsmöglichkeit gegen kollektiven Narzissmus. Ihre Forschungsgruppe untersucht nun, ob Interventionen wie Achtsamkeit und Meditation, die Selbstbewusstsein und Wohlbefinden steigern, kollektiven Narzissmus und seine negativen Konsequenzen verringern können.
Mit viel Geduld, Unterstützung und vor allem dem eigenen Wunsch danach sind Menschen bereit, von menschenverachtenden Ideologien und verinnerlichten Vorurteilen Abstand zu nehmen. Autorin und Radikalisierungs-Expertin Dana Buchzik betont, welch große Rolle Familie und enge Freunde als mächtigste Allianz für eine De-Radikalisierung spielen. Um mit dem fragilen Ego und der Überempfindlichkeit auf Kritik radikalisierter Menschen umgehen zu können, sind vor allem Fingerspitzengefühl und eine de-eskalierende Kommunikation notwendig.
Im Gegensatz zu individuellem Narzissmus ist kollektiver Narzissmus jedoch keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern eine hartnäckige Überzeugung, so Dr. Agnieszka Golec de Zavala. Die Einstellungen, die kollektiven Narzissmus ausmachen, scheinen also durchaus unerschütterlich, sind aber veränderbar. Es ist schwierig, aber möglich, kollektiven Narzissmus zu verlernen.
DISKRIMINIERUNGSFORMEN A – Z
Texte “Diskriminierungsformen”: Lisa Jureczko
Co-Autorin & Reviewerin: Swetlana Nowoshenowa
Q U E L L E N (Text)
Aleksandra Cichocka, Konrad Bocian, Mikolaj Winiewski & Flavio Azevedo, “Not Racist, But…”: Beliefs About Immigration Restrictions, Collective Narcissism, and Justification of Ethnic Extremism, Political Psychology, 2022
Aleksandra Cichocka, Aleksandra Cislak, Bjarki Gronfeldt & Adrian Dominik Wojcik, Can ingroup love harm the ingroup? Collective narcissism and objectification of ingroup members. Group Processes & Intergroup Relations, Vol. 25/7, 1718–1738, 2022.
Aleksandra Cichocka & Aleksandra Cislak, Nationalism as collective narcissism, Opinion in Behavioral Sciences, Vol. 34, 2020
Aleksandra Cichocka, Marta Marchlewska & Agnieszka Golec de Zavala, Does self-love or self-hate predict conspiracy beliefs? Narcissism, self-esteem, and the endorsement of conspiracy theories, Social Psychological and Personality Science, Vol. 7. 2, 2016, 157-166
Charles Evans & Kenneth Dion, Group Cohesion and Performance: A Meta-Analysis. Small Group Research, Vol. 43. 6, 2012, 690–701
Agnieszka Golec de Zavala, Aleksandra Cichocka, Roy Eidelson & Luwan Jayawickreme, Collective narcissism and its social consequences, Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 97.6, 2009
Agnieszka Golec de Zavala, What to expect when collective narcissists get political power, 2017
Agnieszka Golec de Zavala, Müjde Peker, Rita Guerra, Tomasz Baran, Collective Narcissism Predicts Hypersensitivity to In–group Insult and Direct and Indirect Retaliatory Intergroup Hostility, European Journal of Personality, Vol. 30. 6, 2016, 532–551
Sarah Hughes & Laura Machan, It’s a conspiracy: Covid-19 conspiracies link to psychopathy, Machiavellianism and collective narcissism. Personality and individual differences, Personality and Individual Differences, 2021
Marta Marchlewska, Paulina Górska, Katarzyna Malinowska & Kowalski Jarosław, Threatened masculinity: Gender-related collective narcissism predicts prejudice toward gay and lesbian people among heterosexual men in Poland, Journal of Homosexuality, Vol. 69.7, 2022
Marta Marchlewska, Aleksandra Cichocka, Manana Jaworska, Agnieszka Golec de Zavala, Michal Bilewicz, Superficial ingroup love? Collective narcissism predicts ingroup image defense, outgroup prejudice, and lower ingroup loyalty, British Journal of Social Psychology, Vol. 59. 4, 2020, 857-875
Dagmara Szczepańska, Marta Marchlewska, Adam Karakula, Zuzanna Molenda, Paula Górska & Marta Rogoza, Dedicated to Nation but Against Women? National Narcissism Predicts Support for Anti-Abortion Laws in Poland, Sex Roles Vol. 87.1, 2022
Henry Tajfel & John Turner, Austin, An integrative theory of intergroup conflict, in: William Austin & Stephen Worchel (Hrsg.), The Social Psychology of Intergroup Relations, 1979
Q U E L L E N (Lexikon)
Tanja Abou, Klassismus, oder: Was meine ich eigentlich, wenn ich von Klassismus spreche? Eine Annäherung, Vielfalt Mediathek, 2017
Agentur für europäische Grundrechte, Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten: Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Antisemitismus, 2013/2014
Aktion Mensch, Was ist Ableismus?, 2022
Amadeu Antonio Stiftung, Antiziganismus: Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja, 2022
Amadeu Antonio Stiftung & Sebastian Bischoff, Anti-Asiatischer Rassismus – Was ist das?, 2022
Amnesty International, Police Violence, 2022
Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Ethnische Herkunft / Rassismus, 2022
Carsten Balzer, Jan Simon Hutta, Tamara Adrián, Peter Hyndal & Susan Stryker, Transrespect versus Transphobia Worldwide – A Comparative Review of the Human-rights Situation of Gender-variant/Trans People, 2012
Boston Medical Center, Glossary for Culture Transformation, Fatphobia, 2021
Gast Arbeiterin, Der Exotismus. Formen des Othering, renk Magazin, 2022
Krystal Jagooh & Emily Swaim, What is Misogyny?, Verywell Mind, 2022
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Neue Deutsche Medienmacher, Dokumentation des Workshops „Neue Begriffe für die Einwanderungsgesellschaft“, 2013
Janina Panagiotidis & Hans-Christian Petersen, Geschichte und Gegenwart des antiosteuropäischen Rassismus und Antislawismus, bpd, 2022
Jens Scherpe, Die Rechtsstellung von Trans*personen im internationalen Vergleich, bpd, 2018
Klaus Schubert & Martina Klein, Kolonialismus, Das Politiklexikon, bpd, 2020
Sandra Sperling, Was unterscheidet “Islamfeindlichkeit” von “Islamophobie”?, Mediendienst Integration, 2016
Werner Stangl, Lookism, Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, 2022
Emma Stuart, Back to Basics #4: What is the Patriarchy?, UMKC Women’s Center, 2022
Vielfalt Mediathek, Rassismus statt Fremdenfeindlichkeit, 2022
WHO, Ageing: Ageism, 2021
Wiener Antidiskriminierungsstelle für LGBTIQ-Angelegenheiten, Homophobie, Heterosexismus und Heteronormativität – Definitionen, 2022
Carsten Wippermann, Sexismus im Alltag, Wahrnehmungen und Haltungen der deutschen Bevölkerung (BMFSFJ Pilotstudie), 2022