ÜBER DIE KÖRPERLICHEN UND SEELISCHEN FOLGEN VON NARZISSTISCHEM MISSBRAUCH

Betroffene und Überlebende von psychischer Gewalt und narzisstischem Missbrauch entwickeln sowohl seelische als auch körperliche Beschwerden. Doch wie genau wirkt sich diese Gewalt auf die betroffenen Menschen, ihren Körper und ihr Gehirn aus?

ein Text von Lisa Jureczko | Beitragsbild: Lisa Jureczko, Trostlosigkeit, Digital Collage

Während im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt primär sexualisierte und körperliche Gewalt thematisiert werden, rückt der Ursprung dieser Gewaltformen in den Hintergrund: emotionaler, narzisstischer Missbrauch. Dabei überwiegen psychische Misshandlungen im Kontext von Paarbeziehungen deutlich: in einer Studie des BMFSFJ (2014) gaben von insgesamt 2.147 Frauen rund 67% an, zwar keiner körperlichen, dafür aber psychischen Gewalt durch ihre (Ex-) Partner ausgesetzt gewesen zu sein. Für 358 der Frauen resultierte der emotionale Missbrauch in einer massiven psychischen Belastung, 196 wiederum wiesen starke körperliche Beschwerden auf. Das Bundesministerium schätzt, dass „etwa jede 6. Frau, die in einer Paarbeziehung lebt“ psychische Gewalt erleidet. Auch in eurem Umfeld wird es diese Frauen geben.*

Doch psychische Gewalt erleben die wenigsten erst im Erwachsenenalter: diverse internationale Statistiken zeigen, dass emotionaler Missbrauch im Kindesalter und insbesondere emotionale Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen weltweit keine Ausnahme ist. Laut Shelley A. Riggs ist davon auszugehen, dass emotionaler Missbrauch die am häufigsten „verbreitete und zugleich vielleicht die zerstörerischste Form der Misshandlung“ ist.

Der österreichische Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch betont: „(…) Erscheinungsformen von emotionaler Gewalt – etwa in Eltern-Kind-Beziehungen, Familien, Partnerschaften und am Arbeitsplatz – [können] die körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Menschen, besonders im Kindesalter, belasten und die Betroffenen traumatisieren. Ablehnung bis zur emotionalen Vernachlässigung, Zurückweisung, Kränkung, beharrliches Schweigen, Demütigungen, Hass können solche emotionalen Gewalterfahrungen sein, die von Menschen ähnlich intensiv und schmerzlich erlebt werden wie körperliche und sexuelle Gewalt.“

Häufige Krankheitssymptome während und nach dem Missbrauch sind u. a. Depressionen, PTBS, Suizidgedanken und -versuche, extremer Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Migräne, Gedächtnisstörungen (Pseudo-Dementia), Verdauungsstörungen, Herzprobleme sowie chronische Schmerzen. Besonders fatal: viele Betroffene erhalten Fehldiagnosen, weil weder sie selbst noch behandelnde Ärzte den Missbrauch erkennen. Psychische Belastung sowie körperliche Schmerzen führen bei Kindern und Jugendlichen oft zu einem drastischen Abfall schulischer Leistungen, bei Erwachsenen wiederum Leistungsproblemen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit. Man verliert sich selbst in einem Teufelskreis aus freiwilligem Rückzug, unfreiwilliger Isolation, und dem Verlust des beruflichen oder schulischen Umfelds. Letztendlich ziehen sich Betroffene auch aus Aktivitäten zurück, die vorher wichtiger Lebensbestandteil und Ressource waren, sei es Sport, Reisen oder Kunst.

Doch was passiert eigentlich im Gehirn, wenn man Missbrauch erlebt? Wie kommt es zu all den aufgelisteten körperlichen Folgen?

*Sämtliche Studien sind binär gestaltet und formuliert. Tendenziell kann jeder Mensch jeden Geschlechts Opfer narzisstischen Missbrauchs werden. Aufgrund patriarchaler Gesellschaftsstrukturen, sind cis Männer jedoch tendenziell seltener Opfer und häufiger Täter. Verhaltensweisen und Gedankenmuster sind anerzogen und auf eine patriarchale, sexistische Erziehung zurückzuführen. Es gibt keine neurologischen Unterschiede in sog. „männlichen“ und „weiblichen“ Gehirnen im Säuglingsalter.

Narzisstischer Missbrauch – eine Achterbahn der Gefühle mit fatalen Folgen

Narzisstischer Missbrauch ist gleichzusetzen mit kontinuierlichem Stress, beginnend mit der Entstehung der emotionalen Abhängigkeit und dem Traumabonding durch den andauernden Wechsel zwischen Lovebombing und Herabwürdigung. Es folgen zahlreiche Lügen und Halbwahrheiten, Wut, Verlustängste, Einsamkeit und Ungewissheit bis hin zu Streit und lebensbedrohlichen Situationen wie beispielsweise körperlicher Gewalt. All diese Situationen entfachen negative Gefühle bei Betroffenen, die wiederum in der Ausschüttung diverser Hormone und Botenstoffe in unterschiedlichen Gehirnarealen und unserem gesamten Körper resultieren. Befinden wir uns in einer kontinuierlichen Stresssituation, verändern sich ebendiese Gehirnareale zudem langfristig, sodass Betroffene Depressionen, Suizidgedanken oder eine komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln.

Sowohl der Hippocampus als auch die Amygdala sind maßgeblich an emotionalen Prozessen sowie an der Regulation von Stresshormonen beteiligt. Der Hippocampus ist für unser Erinnerungsvermögen zuständig, und sortiert Erinnerungen ins Kurz- und Langzeitgedächtnis. Die ausgesendeten Signale werden in Verbindung mit der Amygdala dann emotional bewertet und eine Reaktion ausgelöst, denn die Amygdala ist der Speicher unserer Emotionen und Traumata. Anhand der eigenen Erfahrungswerte kommt es in (re-)traumatisierenden Situationen dann zu den sog. Traumareaktionen Fight, Flight, Freeze oder Fawn – denn auch die Angst und lebenserhaltende Reaktionen werden in der Amygdala abgespeichert.

Frühe Stresserfahrungen führen laut Psychologin Sabine Aust zu „funktionellen und strukturellen Veränderungen im limbischen System“ und zu einer Senkung der „Reaktionsschwelle der Amygdala“, was wiederum eine „erhöhte Amygdala-Aktivität in Reaktion auf negative, angstinduzierende visuelle Reize“ zum Ergebnis hat. Studien verweisen darauf, dass sich das Volumen des Hippocampus durch frühe Stresserfahrungen und die Ausschüttung von Cortisol (welches auch als „Stresshormon“ bezeichnet wird)reduziert. Das bedeutet, dass das Gehirn von nun an stärker auf negative Reize reagiert. Dies kann in Verhaltensänderungen sowie psychischen Auffälligkeiten resultieren, und erhöht zudem das Risiko einer Depression.

Auch im Erwachsenenalter haben Stress- und Missbrauchssituationen eine negativen Einfluss auf ebendiese Hirnareale: durch die Reduzierung des Hippocampus aufgrund des dauerhaft erhöhten Cortisolspiegels kommt es zu einer Vergesslichkeit, Gedächtnisstörungen und einer verlangsamten Verarbeitung von Informationen und zeitlich falschen Einordnung von Geschehnissen und Erinnerungen, auch bekannt als Abuse Amnesia (Amnesie in Folge von Missbrauch),Dissoziation (Abspaltung von psychischen Funktionen wie Erinnerungen, Gefühlen, Wahrnehmung und Körperempfindungen) und Brain bzw. Depression Fog (mentale Erschöpfung, die es u.a. erschwert, einen klaren Gedanken zu fassen). Betroffene erinnern sich oftmals zwar an die Gefühlswelten, in denen sie sich bewegten, jedoch nicht an konkrete Ereignisse, Taten oder Abläufe. Dieser Gedächtnisverlust kann zu Angstzuständen, Konzentrationsschwierigkeiten, Selbstzweifeln und Orientierungslosigkeit führen. Viele Betroffene erleben auch ein Phänomen, das als Traumaversary bezeichnet wird: durch das implizite Gedächtnis erinnert sich der Körper an Geschehnisse und reagiert dem entsprechend (bspw. durch Schweißausbrüche, Unwohlsein oder Nervosität), ohne jedoch, dass man einen konkreten Grund dafür ausmachen kann. Diese Reaktionen können manchmal sogar auf Erinnerungen zurückgeführt werden, die bis in die frühkindliche Phase zurückreichen. Sie werden durch äußere Einflüsse ausgelöst („Trigger“) und laufen unbewusst ab, sodass Betroffene ihre Reaktion gar nicht oder nur sehr begrenzt kontrollieren können.

Es kann zum Einen eine Schutz- und Überlebensreaktion des Körpers sein, um mit dem Schmerz, der mit bestimmten Taten in Verbindung gebracht wird, umzugehen, zum Anderen kann dies jedoch auch Resultat von monate- oder jahrelangem Gaslighting durch Täter:innen sein. Psychologin Shahida Arabi betont: „Dies ist einer der vielen Gründe, warum es unwahrscheinlich ist, dass Überlebende von psychischer Gewalt übertreiben“, wenn sie erzählen, was sie erlebt haben. Wenn überhaupt, unterschätzen sie das Ausmaß des chronischen Missbrauchs aufgrund der Auswirkungen des Traumas auf das Gehirn, sowie der kognitiven Dissonanz und des Gaslightings, das sie erlitten haben.“

Durch die Vielzahl an Emotionen, die während einer missbräuchlichen Beziehung vorherrschen, kommt es zu einer Reizüberflutung. Die Amygdala vergrößert sich und es kommt zu einer konstanten Alarmbereitschaft (sog. Hyperarousal). Gleichzeitig gewöhnen sich Betroffene an den Angstzustand und verlieren das Gefühl für den Schweregrad der Taten. Es greift ein weiterer Schutzmechanismus: die sog. Kompartimentierung („Untergliederung“). Diese führt dazu, dass Betroffene die negativen Ereignisse ignorieren oder verharmlosen (siehe auch: Stockholm Syndrom) und sich auf die positiven Handlungen von Täter:innen fokussieren: Sie nehmen das falsche Bild, was Täter:innen durch Manipulationstaktiken wie Lovebombing, Breadcrumbing und Future Faking von sich zeichnen, als authentisch wahr, während sie die negativen Verhaltensweisen der Täter:innen ausblenden. Es handelt sich dabei um einen psychischen Schutzmechanismus, um traumatische Erlebnisse zu überleben und zu verarbeiten, nicht um eine bewusste Entscheidung. Aufgrund der Veränderungen in Amygdala und Hippocampus sind schlicht und ergreifend keine bewussten, autonomen Entscheidungen möglich – insbesondere, wenn das Ausmaß der Gewalt nicht erkannt wird. Aussagen, die Opfern unterstellen, sie würden sich für den Missbrauch und für die Täter:innen entscheiden („Du hast es doch gewollt, sonst wärst du doch gegangen.“), sind deshalb vollkommen fehl am Platz. Sie bürden Opfern eine angebliche Verantwortung für die Folgen des Missbrauchs auf und unterstützen damit die Täter:innen.

Während bzw. nach narzisstischem Missbrauch kann die Aktivität der Amygdala ins Extrem überschlagen. Sie ist dann zuständig für Flashbacks, denn eine geschädigte Amygdala erkennt nicht, ob eine Gefahr in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegt. Dieser Teil unseres Gehirns möchte uns schützen, auch wenn keine reelle Gefahr mehr besteht. Nicht immer ist es einfach zu erkennen, ob Traumareaktionen von Betroffenen auf eine vergangene Traumatisierung oder auf unerkannten Missbrauch in der Gegenwart zurückzuführen ist.

Ein Weiterer Faktor, der zu einer erhöhten Aktivität der Amygdala führt, ist Schlafmangel. Studien weisen darauf hin, dass bei Menschen, denen es an Schlaf mangelt, auch der Informationsfluss zwischen Amygdala und Präfrontalem Cortex geschwächt wird. Dies kann negative Gefühle verstärken oder deren Regulation erschweren. Schlafstörungen sind eines der Symptome, unter denen Betroffene von narzisstischer Gewalt leiden: sei es, weil Täter:innen versuchen, sie aktiv von Schlaf und Erholung abzuhalten, oder weil – aufgrund der andauernden Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeit der Täter:innen – die Gedankenspiralen überhand nehmen, und Betroffenen den Schlaf rauben.

Der Frontallappen ist der Sitz unserer Selbstkontrolle und zuständig für Sprache, Konzentrationsfähigkeit, Problemlösungs- und Entscheidungsfindung, sowie für eine Einordnung der Geschehnisse und Wahrnehmungen: Was hat Relevanz? Was nehme ich wahr und was lasse ich außer Acht? Auch hilft uns der Frontallappen aufgrund unseres (Erfahrungs-) Wissens, einzuschätzen, was passieren könnte, unsere Impulse zu kontrollieren und bedachte Entscheidungen zu treffen. Basierend auf diesen Prozessen kommt es dann zu entsprechenden (körperlichen) Reaktionen. Wird der Frontallappen durch psychische Gewalt geschädigt, kommt es zu einer Reduzierung der Größe und Beeinträchtigung ebendieser Funktionen. Betroffene verlieren die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, Gefahren richtig einzuordnen und sinnvolle Entscheidungen zu treffen.

Der Temporallappen ist u.a. für die Emotionsverarbeitung und das verbale Gedächtnis zuständig, und ist eng verknüpft mit Amygdala und Hippocampus. Durch traumatische Erfahrungen werden auch Bereiche negativ beeinfluss, d.h. Betroffene können beispielsweise Erinnerungen nicht mehr richtig verbalisieren. Durch eine Schädigung des Temporallappens fällt es Betroffenen zudem schwerer, Gesprächen zu folgen, weil die vermittelten Inhalten schon während des Zuhörens verloren gehen bzw. nicht gespeichert werden.

Die Insula ist eine der Gehirnregionen, die für emotionale Empathie zuständig sind. Ihr empfindet Verständnis und Empathie für die Täter:innen, obwohl ihr auf kognitiver Ebene wisst, dass es keine Entschuldigungen für die Taten gibt? Der Grund dafür liegt im Inselkortex. Findet narzisstischer Missbrauch statt, kommt es zu einer erhöhten Aktivität in dieser Region des Gehirns. Situationen der Angst führen u.a. dazu, dass die Informationsverarbeitung in der Insula nicht richtig funktioniert, was bspw. auch zu Problemen der Entscheidungsfindung führen kann.

Der ACC ist unter anderem für die Emotionsregulation zuständig und ermöglicht eine proaktive Gedächtnisunterdrückung. Funktioniert diese Gedächtnisunterdrückung, kommt es zu einer erhöhten Aktivität im ACC. Ist die Aktivität des ACC verringert, kommt es zu intrusiven, d.h. belastenden und ständig wiederkehrenden Gedanken. Der ACC leitet dann nicht mehr die nötigen Informationen an den präfrontalen Kortex und Hippocampus weiter, der das Abrufen der jeweiligen Erinnerungen stoppt. Intrusiven Gedankenspiralen bei Betroffenen von narzisstischer Gewalt können sich in exzessivem Grübeln und belastenden Tagträumen äußern. Nach außen hin wirken Betroffene gedanklich abwesend und unkonzentriert.

Eine schwächere Aktivität im ACC wird auch mit einer stärkeren Zurückgezogenheit in der Kindheit sowie der Schwierigkeit, negative Gedanken zu unterdrücken, einer Veränderung der Emotionsregulation und der Verarbeitung autobiographischer Erinnerungen aufgrund von Missbrauchserfahrungen und emotionaler Vernachlässigung in Verbindung gebracht.

Dieser Bereich des Hirns ist zuständnig für komplexe Kognitives, also die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen und ermöglicht uns somit eine Reflektion von Geschehenem. Bei einer gesunden Informationsverarbeitung dient die Großhirnrinde als Langzeitspeicher für unsere Erinnerungen. Bei traumatischen Erlebnissen erfolgt aufgrund der disfunktionalen Abläufe in Amygdala und Hippocampus eine unvollständige oder gar keine Speicherung der jeweiligen Erinnerungen.

Das limbische System ist das Emotionszentrum des Gehirns. In Stress und Frustration auslösenden Situationen werden verschiedene Areale des limbischen Systems aktiviert, welche die Schnittstellen zwischen Emotion und Kognition bilden. Auch Lügen werden im limbischen System als Bedrohung erkannt und abgespeichert. Entdeckt ihr also, dass ihr euch in einer Beziehung mit einer:m notorischen Lügner:in befunden habt, folgt darauf eine durchaus valide Reaktion eures Körper.

Neben offensichtlichen Stresssituationen kann auch Einsamkeit Hirnregionen aktivieren, die ansonsten „bei Schmerzreizen aktiv sind“, so Psychiater und Stressforscher Mazda Adli. Einsamkeit sei ein „Seelenschmerz“, der zu weiteren körperlichen Leiden führen kann. Und narzisstischer Missbrauch macht einsam, denn emotionalen Bedürfnisse werden in einer narzisstischen Beziehung nicht erfüllt oder sogar gegen Betroffene verwendet. Betroffene sind nicht nur in der Beziehung selbst einsam und emotional vernachlässigt, sondern werden mitunter auch aktiv durch Täter:innen von ihrem einstigen sozialen und familiären Umfeld isoliert.

Der Thalamus ist für die Emotionsregulation zuständig und ermöglicht zudem ein Filtern von Sinneseindrücken in „wichtig“ und „unwichtig“. Erleben Betroffene Traumata oder Re-Traumatisierungen, funktioniert der Thalamus nicht wie bei gesunden Menschen, dadurch erleben sich beispielsweise Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung durch diverse Trigger eine konstante Reizüberflutung.

Der Scheitellappen ist für die Reizverarbeitung von Berührung und Schmerz zuständig. Im Laufe der Zeit entwickeln Menschen eine sog. Sensorische Adaption, d.h. die empfundene Stärke eines Reizes nimmt ab, wenn dieser kontinuierlich ist. Was bedeutet das für Opfer psychischer Gewalt? Sie gewöhnen sich mit der Zeit an den narzisstischen Missbrauch und nehmen ihn häufig nicht als solchen wahr. Diese Tendenz nutzen Täter:innen aus, indem sie zunächst sehr verdeckte und subtile psychische Gewalt ausüben, diese aber kontinuierlich eskalieren. Je abhängiger Betroffene von Täter:innen werden, desto häufiger, direkter und offensichtlicher wird der Missbrauch. Opfer, die ihre Abhängigkeit von den Täter:innen überwinden können, realisieren häufig erst deutlich später das ganze Ausmaß der psychischen (sowie häufig auch sexuellen und körperlichen) Gewalt.

Die Nebenniere beginnt in Stress- und Gefahrensituationen mit der Produktion von Kortisol und Epinephrinen (Adrenalin). Schlägt die Amygdala also Alarm, beispielsweise weil unser System durch Eindrücke oder Erinnerungen getriggert wird, schießen Adrenalin und Kortisol durch unseren Körper. Das passiert auch, wenn aus Lovebombing plötzlich Ghosting, Herabwürdigung und Abweisung werden. Missbräuchliche Episoden treffen Opfer oftmals sehr plötzlich und unvorhergesehen, und lösen Angst- und Panikzustände bis hin zu Schockmomenten aus. Von einem Moment auf den anderen, müssen sich Betroffene mit einer neuen, überfordernden Situation zurechtfinden, die nicht in das Bild der Beziehung passt, das sie bisher hatten.

Nach einer solchen missbäruchlichen Beziehung fühlen sich auch Dinge, die eigentlich keine reelle Gefahr mehr für uns ausmachen, so an, als seien sie lebensbedrohlich und es kann zu einer der Traumareaktionen (fight, flight, fawn oder freeze) kommen. Das erneut sehr hohe Level an Adrenalin, das durch Trigger ausgestoßen wird, kann auch Monate oder Jahre später zu Herzrasen, Angst, Panik und Wut führen.

Hohe Level an Kortisol wiederum können nicht nur negative Auswirkungen auf unsere Psyche haben, und Amygdala und Hippocampus schädigen., sondern auch auf unseren Körper, denn Kortisol blockiert das Imunsystem und begünstigt die Entstehung diverster körperlicher Leiden.

Diese neurologische Prozesse begünstigen also zum Einen Lern- und Gedächtnisprobleme, und führen zum Anderen zu einer erhöhten Impulsivität. Betroffene reagieren daher nicht selten schneller und aggressiver auf das Verhaltens der narzisstischen Täter:innen, als sie es in nicht-missbräuchlichen Konfliktsituationen tun würden. Täter:innen gelingt es somit also, Betroffene schneller zu provozieren, durch die jeweilige Reaktion des Opfers narzisstische Zufuhr (siehe auch narcissitic supply) zu generieren und Opfer als aggressiv und psychisch labil darzustellen.

Körperliche Folgen von psychischer Gewalt

Neben den Auswirkungen von Trauma auf die Gehirnstruktur, resultieren Missbrauchserfahrungen wie psychische Gewalt und emotionale Vernachlässigung mitunter in langjährigen, chronischen körperlichen Leiden. Denn unser Körper ist zwar gewappnet für kurzzeitige Stresssituationen, leidet jedoch massiv, wenn die Stressfaktoren langfristig präsent sind. Die Prozesse, die auf neuronaler Ebene in Gang gesetzt werden, wenn man sich in einer narzisstischen Beziehung befindet, zeichnen sich auf körperlicher Ebene deutlich ab: Viele Betroffene entwickeln beispielsweise Autoimmunerkrankungen wie Hashimoto (eine chronisch entzündete Schilddrüse), chronische Schmerzen v.a. im Bereich des Rückens und der Hüfte, sowie Lungen- und Herzerkrankungen. Auch Haut und Haare altern schneller, wenn der Alltag geprägt ist von Angst, Tränen und Verzweiflung.

Aufgrund des konstant erhöhten Cortisollevels kann der Körper zudem Nährstoffe nicht mehr wie gewohnt aufnehmen und blockiert Funktionen des Immunsystems, sodass Betroffene anfälliger für Infektionskrankheiten sind. Das Resultat eines erhöhten Kortisollevels ist oftmals ein rapider Gewichtsverlust und ein damit einhergehender Nährstoffmangel, der wiederum zu Kopfschmerzen und Migräne, Magendarmproblemen, Schlafstörungen und Müdigkeit führen kann. Schockzustände und traumatische Erlebnisse können derweil auch zu Nierenproblemen führen: die sog. Schockniere bezeichnet ein plötzlich auftretendes Nierenversagen, doch es kann auch zu anderen Formen der Nierenerkrankungen. Psychische Gewalt ist also nie ausschließlich mit psychischem Leid verknüpft, sondern hat immer auch körperliches Leid zur Folge.

Studien haben zudem gezeigt, dass unser Gehirn Liebeskummer – also emotionale Schmerzen – genau so abspeichert, wie körperliche Schmerzen. In gravierenden Fällen kann dies sogar zum sog. Broken Heart Syndrome führen. Symptome sind plötzliche starke Schmerzen im Bereich der Brust, Kurzatmigkeit, unregelmäßiger Herzschlag, niedriger Blutdruck und Ohnmacht. Betroffene können diese Symptome über eine lange Zeit hinweg aufweisen und entwickeln sie aufgrund einer enormen Stresssituation im Beziehungskontext. Während Liebeskummer nach einer gesunden Trennung schon schmerzhaft ist, gleicht sie für Betroffene von narzisstischer Gewalt nach dem monatelangen Auf und Ab, dem ständigen Wechsel aus Hoffnung und Enttäuschung, einem Drogenentzug.

Narzisstische Gewalt: Eine Endlosschleife Schmerz

Während der Lovebombing-Phase am Anfang einer narzisstischen Beziehung werden bei Betroffenen Hormone wie Dopamin und Oxytocin ausgeschüttet, die positive Gefühle auslösen und emotionale Bindungen verstärken. Kommt es zur ersten Abwertung (beispielsweise durch Ghosting, emotionale Költe oder eine plötzliche, subtile Distanziertheit) entwickeln betroffene Angst und Unsicherheit und der Körper schüttet Epinephrine wie Adrenalin aus, die in einer Steigerung der Herzfrequenz und des Blutdrucks resultieren. Kommt es daraufhin zu weiteren Auseinandersetzungen und möglicherweise auch verbaler oder körperlicher Gewalt, wird im Überschuss Kortisol freigesetzt, der zu körperlichen Beschwerden wie Gewichtszunahme oder Muskelabbau sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Zyklusstörungen, Akne und Depressionen führen kann. In den meisten Fällen kommt es daraufhin zur Phase des Hooverings, in der Täter:innen durch Manipulationstaktiken wieder Ruhe einkehren lassen. Betroffene empfinden Erleichterung, es wird also erneut Dopamin und Oxytocin ausgeschüttet. Alles scheint wieder in geregelten Bahnen abzulaufen – bis es erneut zu einer Abwertung kommt, und der Kresilauf von vorne beginnt.

Je länger sich ein Mensch in einer narzisstischen Beziehung befindet, desto schwieriger wird es, sich aus dieser zu befreien. Denn das, was im Körper passiert, ist vergleichbar mit einem Drogenentzug: wer den Dopamin-Rush verliert, der durch den ständigen Wechsel aus Lovebombing, Future Faking und narzisstische Abwertung ausgelöst wird, empfindet körperliche und seelische Schmerzen, die mit klassischen Entzugserscheinungen vergleichbar sind. Durch den massiven Wechsel aus Stress- und Glückshormonen in sehr kurzen Abständen entsteht ein Traumabond, der in Betroffenen eine Kognitive Dissonanz auslöst: man fragt sich, was real ist, was wahr ist, was man ernst nehmen soll oder eben nicht. Dies erschwert (logische) Entscheidungen aller Art und das Gehirn verfällt in einen Survival Modus. In diesem Moment wird Vertrautes (und dazu gehört auch die missbräuchliche Beziehung selbst) mit Sicherheit gleichgesetzt – auch, wenn eine solche Beziehung alles andere als sicher ist. Dass ebendiese nicht sicher ist, ist jedoch noch schwieriger zu durchschauen, wenn Täter:innen ausschließlich psychische Gewalt anwenden.

Vielen Betroffenen fehlt es zudem an Worten und Namen, um das, was sie erleben, und die Komplexität dessen, zu beschreiben. Kommt es zudem dazu, dass Täter:innen und Enabler:innen das Verhalten der Betroffenen kritisieren, Täter-Opfer-Umkehr betreiben und Betroffenen Schuldgefühle machen, glauben diese am Ende tatsächlich, dass die Schuld bei ihnen liegt, und nicht bei den Täter:innen. Die auch körperlich tief verankerten Erinnerungen an die Lovebombing-Phase in Kombination mit Gaslighting lassen Betroffene glauben, dass sich narzisstische Täter:innen irgendwann tatsächlich ändern werden und sich alles zum Guten wendet.

PTBS, Depressionen & Suizidalität: Wenn „Liebe“ in Trauma endet

Viele Betroffene von narzisstischem Missbrauch & psychischer Gewalt zeigen die genannten Symptome nicht nur während der Beziehung, sondern auch lange nach einer Trennung. Langzeitfolgen wie eine Posttraumatische Belastungsstörung, schwere Depressionen oder gar Suizidalität sind nicht selten, wie erst kürzlich eine von Shahida Arabi durchgeführte Studie der Harvard University zeigte. Eine PTBS wurzelt in einer Veränderung der Gehirnstrukturen aufgrund von massiven Traumata: eine konstant hyperaktive und in ihrer Größe reduzierte Amygdala führt zu einem erhöhten Angstlevel, körperlichen Schmerzen, Hyperarousal (eine lang anhaltende Übererregung) und einer erhöhten Sensibilität für reale oder vermeintliche Gefahrensituationen, eine langfristige Reduzierung des Hippocampus manifestiert Gedächtnisstörungen, erschwert es Betroffenen, Gefahren realistisch einzuschätzen und erhöht das Risiko regelmäßiger Trigger, während die Schädigung des Präfrontalen Kortex für eine Disregulation der Emotionen sorgt und rationales Denken und Entscheiden erschwert.

Ein häufiges Symptom einer PTBS sind Flashbacks. Betroffene erleben durch äußere Auslöser („Trigger“) wie z.B. Orte, Geräusche oder Gerüche eine vergangene traumatische Situation im Hier und Jetzt wieder, auch dann, wenn die Gefahr keine reale mehr ist. Zudem gibt es sog. Somatische Flashbacks, also solche, die rein auf körperlicher Ebene ablaufen – denn der Körper speichert traumatische Erinnerungen auf verschiedenen Ebenen ab. Hat eine Person beispielsweise einen missbräuchlichen und machtausübenden Elternteil gehabt, können Traumreaktionen (z.B. Erstarren, auch „Freezing“ genannt) und somatische Flashbacks auftreten, wenn Partnerpersonen oder Arbeitskolleg:innen ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Oftmals können Betroffene, die traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht haben, diese körperlichen Traumareaktionen im Erwachsenenalter nicht unbedingt mit den Kindheitserinnerungen verküpfen. Mögliche somatische Traumareaktionen sind Anspannung, Ängstlichkeit, Magendarmbeschwerden, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindel, Schlafstörungen oder Konzentrationsprobleme sein. Insbesondere Betroffene von sexualisierter Gewalt berichten auch von physischen Schmerzen an diversen Körperstellen, die medizinisch nicht auf akute Erkrankungen zurückzuführen sind.

Traumatische Erfahrungen schädigen auch langfristig das Erinnerungsvermögen von Betroffenen. Es kommt zu einer sog. Fragmentierung des Gedächtnisses, d.h. dass die Erinnerung an die genaue Abfolge von Ereignissen gar nicht oder nur teilweise vorhanden. Wüssten mehr Menschen, dass eine solche Fragmentierung stattfindet, würden Betroffenen mit Sicherheit seltener mit dem Vorwurf des Lügens konfrontiert werden. Dass Menschen mit einer PTBS Flashbacks erleben, hängt auch damit zusammen, dass Erinnerungen an das Trauma nur fragmentiert abgespeichert werden und somit bestimmte Trigger auch ohne Kontext eine Re-Traumatisierung auslösen können. Neben dem o.g. Hyperarousal, also einer erhöhten Wachsamkeit bzgl. potenzieller Gefahren, entwickeln manche Betroffene auch ein sog. Hypoarousal, und befinden sich in einem Zustand der emotionalen Leere und Teilnahmslosigkeit. Letzteres ist ebenfalls als Schutzmechanismus des Körpers anzusehen.

Eine Posttraumatische Belastungsstörung geht oftmals auch einher mit einer schweren Depression, die sich lähmend auf Betroffene auswirkt. Kommt psychische Gewalt wie Gaslighting oder verbale Gewalt durch Täter:innen und Umfeld hinzu, kann dies darin resultieren, dass Betroffen die Kraft und Motivation fehlt, eine Veränderung der aktuellen Situation anzustreben, sei es durch regelmäßige Unternehmungen, eine Therapie oder eine Veränderung des sozialen Umfelds. Eine Veränderung anzustreben bedeutet in dem Kontext auch ein kreatives Umdenken und eine Zukunftsvision für sich selbst.

Befindet sich unser Gehirn konstant im Überlebensmodus, fällt ein solches Umdenken jedoch besonders schwer: „Der Hippocampus wird seit Kurzem mit Kreativität und Vorstellungskraft in Verbindung gebracht. Denn Vorstellungskraft ist die Fähigkeit, die Dinge, die Sie in Ihrer Erinnerung haben, zu nehmen und sie auf eine neue Art und Weise zusammenzusetzen. So wie der Hippocampus es uns ermöglicht, über die Vergangenheit und Erinnerungen nachzudenken, erlaubt er uns auch eine Vorstellung unserer Zukunft. Langfristiger Stress tötet buchstäblich die Zellen in Ihrem Hippocampus, was zur Verschlechterung des Gedächtnisses beiträgt – und auch die Kreativität vernichtet.“, so Dr. Wendy Suzuki, Neurowissenschaftlerin der New York University.

Doch das Schicksal von Betroffenen ist nicht besiegelt: mit den richtigen Therapiemethoden sind Traumafolgen reversibel. Diese stellen wir euch in Teil 2 des Artikels vor.

Q U E L L E N

Shahida Arabi, Narcissistic and psychopathic traits in romantic partners predict post-traumatic stress disorder symptomology: Evidence for unique impact in a large sample, Personality and Individual Differences, Vol. 201, 2023

Sabine Aust, Frühe Stresserfahrungen und die Entwicklung emotionaler Fertigkeiten. Individuelle Unterschiede, neuronale Grundlagen und protektive Faktoren, in: Karl Heinz Brisch (Hrsg.), Bindung und emotionale Gewalt, S. 123–143

Karl Heinz Brisch, Vorwort, in: Karl Heinz Brisch (Hrsg.), Bindung und emotionale Gewalt, 2017,S. 9–11

Maité Crespo-García, Yulin Wang, Mojun Jiang, Michael C. Anderson & Xu Lei, Anterior Cingulate Cortex Signals the Need to Control Intrusive Thoughts during Motivated Forgetting, Journal of Neuroscience, Vol. 42.21, 2022, 4342–4359

Ulf Elbelt, Cushing-Syndrom: Wenn ein Zuviel an Cortisol krank macht, Seltenekrankheiten.de

Carina Födisch, Der Einfluss kindlicher Traumatisierung auf die funktionelle Konnektivität im Resting-State, Dissertation, Universität Magdeburg, 2021

Farrukh Koraishy, Steven Coca, Beth Cohen, Jeffery Scherrer, Frank Mann, Pei-Fen Kuan,Benjamin Luft & Sean Clouston, The Association of Posttraumatic Stress Disorder With Longitudinal Change in Glomerular Filtration Rate in World Trade Center Responders, in: Psychosom Med Vol. 83.9, 202, 978–986

Sakari Lemola, Nadine Perkinson-Gloor, Serge Brand, Julia Dewald-Kaufmann & Alesander Grobl, Adolescents’ Electronic Media Use at Night, Sleep Disturbance, and Depressive Symptoms in the Smartphone Age, in: Journal of Youth and Adolescence, Vol. 44, 2015, S. 405–418

Hans Markowitsch & Sabine Borsutzky, Gedächtnis und Hippocampus des Menschen, Neurologie und Rehabilitation Vol. 9.1, 2003, 1–14 

Carolyn Centeno Milton & Wendy Suzuki, Fear Shrinks Your Brain and Makes You Less Creative, Forbes, April 2018

Shelley A. Riggs, Der Zyklus des emotionalen Missbrauchs im Bindungsnetzwerk, in: Karl Heinz Brisch (Hrsg.), Bindung und emotionale Gewalt, 2017, S. 59–97

Stephan Stahlschmidt, Trauma. Was im Gehirn passiert, posttraumatische-belastungsstoerung.com

Takanobu Yoshii, The Role of the Thalamus in Post-Traumatic Stress Disorder, International Journal of Molecular Sciences, Vol. 22.4, 2021, 1730

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